01.10.2020 | Hindernisfreie Architektur & HBLU | Medienmitteilung
Wolhusen
Menschen mit einer Behinderung sollen den öffentlichen Verkehr selbständig benutzen können. So verlangt es das Behindertengleichstellungsgesetz. Leider wird dieser Grundsatz im geplanten Bushof Wolhusen nicht umgesetzt. Von den fünf neuen Haltekanten wird nur eine einzige so gebaut, dass Menschen im Rollstuhl oder mit Rollator selbständig ein- und aussteigen können. Die Fachstelle für hindernisfreie Architektur wehrte sich mit einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen diese Pläne. Doch das Kantonsgericht stützt das Vorgehen der Behörden und lehnt die Beschwerde aus Gründen der „Verhältnismässigkeit“ ab, weil die Platzverhältnisse beim Bahnhof eng seien.
Beschränkte Mittel gezielt einsetzen
Eva Schmidt von der Schweizer Fachstelle für hindernisfreie Architektur ist überzeugt, dass es auch in Wolhusen eine rollstuhlgerechte Lösung gäbe: „Das Gericht nimmt die Diskriminierung der Nutzerinnen und Nutzer mit Gehbehinderung bewusst in Kauf.“ Dennoch hat die Schweizer Fachstelle nach eingehender Prüfung des Urteils entschieden, diesen Fall nicht ans Bundesgericht weiterzuziehen. „So leid es uns für die betroffenen Menschen tut, wir sind gezwungen, unsere Kräfte zu bündeln und unsere beschränkten Mittel dort einzusetzen, wo sie die grösstmögliche Wirkung zeigen. Dazu setzen wir an erster Stelle auf Dialog und Beratung und wenden die rechtlichen Mittel dort an, wo wir für die Zukunft Positives bewirken können.“ Die Gemeinde Wolhusen habe es „schlicht verpasst“, frühzeitig die Anliegen von behinderten Menschen in die Planung miteinzubeziehen, sagt Eva Schmidt.
Gemeinsam kreative Lösungen finden
Vieles ist derzeit in Bewegung. Gemäss Eva Schmidt wird bei den neusten Projekten von Bushubs eine Ausführung mit hohen, behindertengerechten Haltekanten vom Start der Planung an prioritär verfolgt. „Wenn das Gespräch mit Vertretenden von Behindertenorganisationen früh aufgenommen wird, kann gemeinsam nach machbaren Lösungen gesucht werden.“ Die Fachstelle für hindernisfreie Architektur unterstütze gerne bei der Suche nach kreativen und situationsgerechten Lösungen. Gegen eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderung werde sie sich aber auch künftig wehren – „wenn nötig bis vor Gericht“.
Hohe Haltekanten nützen allen
Diese Haltung vertritt auch Barbara Schwegler Peyer, Präsidentin des Vereins Hindernisfrei Bauen Luzern HBLU, welcher in Wolhusen ebenfalls involviert war. „Ich bedaure sehr, dass die Chance eines barrierefreien Bushofs in Wolhusen verpasst wird.“ Der Entscheid des Kantonsgerichts bewirke, dass Reisende mit Gehbehinderung in Wolhusen „nicht nur heute und morgen, sondern in den nächsten Jahrzehnten auf fremde Hilfe angewiesen sind“. Doch auch die HBLU-Präsidentin will nach vorne schauen. Diverse Projekte im Kanton Luzern seien in Planung, unter anderem neue Bushubs in Ebikon und Sursee. „Ich erwarte, dass hier nachhaltige Konzepte umgesetzt werden, welche die chancengleiche Nutzung für Menschen mit Behinderungerfüllen.“ Von den hohen Haltekanten würden alle profitieren: „Sie erleichtern auch das Leben von Eltern mit Kinderwagen, Reisenden mit Rollkoffer oder Menschen mit Einkaufswagen.“ pd
Kurzinterview mit Matthias Lötscher, Vizepräsident des Vereins Hindernisfrei Bauen Luzern HBLU und Rollstuhlfahrer
„Ziel ist die gesellschaftliche Akzeptanz“
Nun ist es definitiv: Der neue Bushof Wolhusen wird nicht behindertengerecht gebaut. Als Begründung sagt das Kantonsgericht, alles andere wäre ein unverhältnismässig grosser Aufwand. Wie kommt das bei Ihnen als Rollstuhlfahrer an?
Matthias Lötscher, Vizepräsident des Vereins Hindernisfrei Bauen Luzern HBLU und Rollstuhlfahrer: Uns allen ist bewusst, dass im Sinne einer Verhältnismässigkeitsprüfung immer Augenmass angewendet werden muss. Jedoch führt dieses „Augenmass“ gerade im Bereich des hindernisfreien Zugangs allzu oft zum Entscheid, Diskriminierung im Alltag zuzulassen und dies mit dem Argument des fehlenden Platzangebotes oder zu hohen Kosten zu legitimieren. Weiter werden auch allzu oft mögliche Alternativlösungen, in Wolhusen etwa der autonome Zugang bei lediglich einer Bustüre, ungeprüft verworfen. In solchen Momenten frage ich mich, gerade auch aufgrund meiner Tätigkeit als Jurist, wozu wir ein Behindertengleichstellungsgesetz haben, wenn dessen Einhaltung unter Berufung auf eine Unverhältnismässigkeit umgangen werden kann. Kosten und Platz scheinen oft die einzigen Argumente zu sein. Das ist ein bedenkliches Zeichen für einen sozialen und wohlhabenden Staat wie die Schweiz. Vereinfacht gesagt: Auf dem Papier wird Diskriminierung nicht akzeptiert und unsere Bedürfnisse werden gehört. Doch das Entscheidende, nämlich die Umsetzung im Alltag, findet nicht statt. Das ist frustrierend.
Immerhin wird die Buslinie, welche zum Spital führt, mit einer hohen Kante ausgestattet. Reicht das nicht?
Gegenfrage: Sind wir nicht alle froh, wenn wir möglichst selten ins Spital fahren müssen, egal ob für einen Besuch oder eine Behandlung? Der Ansatz, einzig die Haltestelle zum Spital barrierefrei zu bauen, zementiert das Stigma, Menschen mit körperlichen Einschränkungen seien krank und benötigten ständige medizinische Versorgung. Das ist stossend und trifft in sehr vielen Fällen nicht zu. Menschen mit körperlichen Einschränkungen wollen ihren Grundbedürfnissen uneingeschränkt nachgehen, wie dies auch Menschen ohne körperliche Einschränkungen tun. Dazu gehören Arbeit, die Pflege von sozialen Kontakten, Freizeitaktivitäten und so weiter. Dies alles wollen wir autonom tun, ohne jemanden um Hilfe zu fragen oder auf Hilfe zu warten. Das wird nun in Wolhusen mit dem Entscheid des Kantonsgerichts verwehrt.
Der neue Bushof Wolhusen wurde zum juristischen Streitfall. Wie könnte man dies vermeiden? Oder anders gefragt: Was kann man künftig besser machen?
Entscheidend ist eine umsichtige und frühe Planung, welche sämtlichen Beteiligten Gehör verschafft, auch Behindertenorganisationen. Die Chance, mit Interessenvertretern an einen Tisch zu sitzen, wird zwar heute vermehrt genutzt, meines Erachtens aber immer noch zu wenig. Eine gerichtliche Auseinandersetzung ist nie das Ziel, denn am Schluss wollen wir die Diskriminierung durch eine breite, gesellschaftliche Wahrnehmung und Akzeptanz aufheben und nicht primär über gerichtliche Entscheide. Dieser Weg scheint zielführend und führt zu einer Anerkennung der Bedürfnisse von Menschen mit körperlichen Einschränkungen.
Hindernisfreie Architektur – Die Schweizer Fachstelle
Geschäftsführerin:
Eva Schmidt, Kernstrasse 57, 8004 Zürich
044 299 97 96 oder 076 595 41 84
schmidt@hindernisfreie-architektur.ch
Verein Hindernisfrei Bauen Luzern HBLU
Präsidentin HBLU :
Barbara Schwegler Peyer, Bleuen 5, 6130 Willisau
041 970 05 49 oder 079 268 98 64
barbara.schweglerpeyer@hblu.ch